Ostwestfälischer Turngau
Samstag, 20.04.2024, 03:11:49
Bericht über das Lehrturnen in Steinheim am 28. und 29. Mai 1927

1. Tag. Gauoberturnwart Pilger, Paderborn hatte in den Blättern des Ostwestfälischen Turngaues zu einem Lehrturnen des 2. Bezirkes in Steinheim aufgerufen. Etwa 30 Turner aus den Kreisen Paderborn und Höxter waren dem Rufe gefolgt. Samstag nachmittag 2 1/2 Uhr begannen im Hillebrand'schen Turnsaal die Uebungen. Gauoberturnwart Pilger begrüßte die Erschienenen und stellte die Namen der Anwesenden fest. Darauf begann gleich ein frisch-fröhliches Turnen.
Den einleitenden Bewegungsübungen folgte ein zweistündiges Barrenturnen von den einfachsten bis zu den kompliziertesten Uebungen, mit besonderer Berücksichtigung der Turnsprache. Mit einer Gruppe Freiübungen beschloß der Gauoberturnwart Pilger die ersten Lehrstunden. Anschließend führte Gauvertreter Meyer zu Köcker, Lippstadt eine Gruppe neuzeitlicher Freiübungen vor, bei denen der Rhythmus nicht durch Kommando, sondern nach dem Atembedürfnis des einzelnen Turners gegeben wurde. Sie interessierten unsere Turner besonders und setzten sie nach 10 Minuten "unter Dampf".
Nun ging's hinaus zum Sportplatz, wo Gauspielwart Hönnemann Fangübungen, Schockwurf und Abwerfen des Läufers mit dem Schlagball, sowie den Schlagball-Hoch- und Weitschlag übte. Das sich anschließende schöne Schlagballspiel musste leider bei einsetzendem Regen abgebrochen werden.

Der Abend vereinte die auswärtigen Turner im Hillebrand'schen Saale, in dem sich auch die Mitglieder des Steinheimer Turnvereins eingefunden hatten. Herr Bürgermeister Starp beehrte die Anwesenden mit seiner Gegenwart. Nach kurzer Begrüßung durch den Vereinsvorsitzenden Müller ergriff Herr Dr. Schonlau das Wort zu seinem Vortrag über den Gesundheitswert der Leibesübungen. Aus seinen sehr beherzigenswerten Ausführungen seien zwei Punkte hervorgehoben. 1. Die Leibesübungen beugen der Entstehung von Ungleichmäßigkeiten des Körpers vor. Diese Ungleichmäßigkeiten beobachten wir nur zu oft bei den einzelnen Berufen. Der hobelnde Tischler z. B. bekommt bei der immer wiederkehrenden Bewegung in stets gleicher Körperhaltung eine Wirbelsäulenverbiegung; bei dem Steine oder Mörtel tragenden Maurer oder Handlanger bildet sich die schiefe, hohe Schulter heraus; der Schumacher erhält die bekannte Schusterbrust durch stemmen des Pfriemens gegen das Brustbein. Der Stöckelschuh mit den häßlichen hohen Absätzen bewirkt bei Damen Verkürzung der langen Fersensehne und Verkümmerung der Fußmuskeln. Durch die vornübergebeugte Körperhaltung bei der sitzenden Lebensweise bekommt der Bureaubeamte leicht eine Einsenkung des Bruskorbes mit seinen Folgeerscheinungen. Ebenso entsteht die Schmalbrüstigkeit vieler Schulkinder infolge schlechter Haltung beim Schreiben und Zeichnen. Alle diese Schäden gilt es, durch geeignete Geräteübungen, durch Schwimmen, Wandern, Laufen, Freiübungen auszugleichen.

Vernünftig betrieben bewirken Leibesübungen zweitens eine Kräftigung des Herzens und der Lunge. An Hand einer anschaulichen Statistik nach Dr. Worringen, Essen legte der Vortragende den günstigen Einfluß des Turnens und Sportes auf die Lunge dar. Die Dehnung des Brustkorbes durch Leibesübungen wurde durch Röntgenbilder gezeigt. Lebhaftes Interesse erregte auch die Bekanntgabe der Ergebnisse von Lungenfassungskraft-Messungen bei Steinheimer Turnerinnen und Turnern mit dem Spirometer. Turnen und Sport, Luft und Sonne sind die besten Wachstumsreize für Jugendliche.
Reicher Beifall lohnte diese meisterhaften Ausführungen.

Am 2. Tage des Lehrturnens war morgens 6 1/4 Uhr gemeinschaftliche Teilnahme am Gottesdienst; daran schloß sich eine halbstündige Morgenwanderung bei herrlichem, frischem Maiwetter. Um 9 Uhr begann Gauoberturnwart Pilger seine Lehrstunden mit Bewegungsübungen in Verbindung mit Freiübungen, woran er die Pflichtfreiübungen für das bevorstehende Kreisfest in Dortmund schloß. Nun wurde die ganze Schule am Reck durchgeturnt mit sämtlichen Angängen, Stützübungen, Aufschwüngen, Felgen, Schwungstemmen, Wellumschwüngen und deren Verbindungen. Darauf zeigte Gausportwart Richter, Lippstadt zweckentsprechende Freiübungen für die Kräftigung der Bein- und Baumuskulatur, sowie einige Vorbereitungsübungen für den Lauf. Diesen Turnübungen folgte Gauoberturnwart Pilger mit 4 Gruppenübungen am Pferd, hier wie beim Reck immer wieder mit besonderer Berücksichtigung der Turnsprache. Dann war eine zweistündige Mittagspause.

Am Nachmittag marschierte die Turnerschar mit frohem Singen zum Sportplatz, wo Gausportwart Richter den Start zum 100 Meter-Lauf, Schleuderballweitwurf, Kugelstoßen, Steinstoßen, Diskuswerfen, Speerwurf, sowie Hoch-, Weit- und Stabhochsprung vorführte.
Zum Schluß zeigte Gauspielwart Hönnemann ein Schlagballspiel, dem Handball und Faustball folgten.

Den Beschluß des überaus anregenden Kurses bildete ein Vortrag des Gauvertreters Meyer zu Köcker über den Aufbau neuzeitlicher Freiübungen. Nachdem die Kursisten zwei Tage angestrengt geturnt und gespielt hatten, war es ein Wagnis, solch hohe, schwierige Ausführungen zu bieten. Aber ein rechter Turner macht nie schlapp!
Und so folgten die Anwesenden dem Vortrage mit Interesse und Verständnis. Herr Meyer zu Köcker verbreitete sich in seinem mehr als einstündigen Vortrag über das Auslösen aus dem Schwerpunkt des Körpers, über das Gesetz der Spannung und Entspannung und über rhythmische Gymnastik. Er berührte die verschiedenen Systeme von Loges, Loheland, Bode, Mensendiek, Nils Bukh und gab jeweils wertvolle Anregungen, wie weit diese neuzeitigen Uebungen in unserm Turnbetrieb Verwertung finden können. Reicher Beifach folgte den vortrefflichen Ausführungen.

Damit hatte die lehrreiche Tagung ihr Ende erreicht.
Möge sie reiche Früchte zeitigen. An dieser Stelle sei dem Gastwirt Hillebrand, der seine Räume bereitwilligst zur Verfügung stellte, sowie den Steinheimer Bürgern, die die Turnwarte und Turner gern und frei bewirteten, herzlichst gedankt.

Kiene, Konrektor

entnommen aus "Blätter für den Ostwestfälischen Turngau" No. 130, Juli 1927