75jähriges Jubiläum des Lippstädter Turnvereins von 1848
Lippstadt, den 4. Juni 1923
Das so lange erwartete und mit so viel Fleiß vorbereitete 17. Gauturnfest des ostwetsfälischen Turngaues ist nun vorbei. Wer die Unsumme von Arbeit kennt, die solch ein Fest in seiner Vorbereitung bedingt, wird den Lippstädter Turnverein, der diese Arbeiten zu leisten hatte, von Herzen beglückwünschen, daß seine Bemühungen vom besten Erfolge gekrönt worden sind. Um es vorweg zu nehmen: das Fest verlief zu allseitiger Zufriedenheit in schönster Harmonie, zumal auch das wetterwendische Wetter, von dem in erster Linie das gute Gelingen eines Gauturnfestes abhängt, den Verhältnissen entsprechend gut war; von oben blieb es wenigstens bis in die Abendstunden des gestrigen Tages trocken, wenn auch der Ueberzieher wegen des kalten Wetters vorherrschend war. Mit dem Gauturnfest war auch das 75jährige Bestehen des Lippstädter Turnvereins von 1848 verbunden, gewiß ein Grund mehr für uns Lippstädter, mit doppelter Anteilnahme das Turnfest zu begehen. Diese Anteilnahme gab sich besonders kund in der reichen Ausschmückung und Beflaggung der Straßen der Stadt, wie sie Lippstadt lange nicht gesehen hat. Bemerkenswert war der Schmuck am Denkmal Bernhards II., dessen Reckengestalt wohl mit Befriedigung auf die elastischen Gestalten der vielen Turner zu seinen Füßen herniedergeschaut haben mag.
Der Nachmittag des 2. Juni brachte in großer Anzahl die angemeldeten Wetturner, rund 300 Turner und 30 Turnerinnen waren es, die hier eintrafen, um am folgenden Sonntag Morgen in der Frühe zum friedlichen Wettkampf um den Eichenkranz gerüstet zu sein. Um 8 Uhr abends bewegte sich ein Zapfenstreich durch die Straßen der Stadt, ausgeführt von der Kapelle der Freiwilligen Feuerwehr Lippstadt, unter Vorantritt des schneidigen Tambourkorps des Turnvereins "Germania" Lippstadt. Anschließend fand im Saale Sommerkamp-Alsen eine Vorfeier statt, in welcher die Turner und Turnfreunde eine gemütliche Zusammenkunft feierten. In derselben sprach der Vorsitzende des Jubelvereins, Herr Kulturbausekretär Marx, herzliche Worte der Begrüßung, worauf Herr Bürgermeister Nohl im Namen der Stadt Lippstadt entgegnete. Die exakt ausgeführten Reigen der Frauenabteilung, sowie das Keulenschwingen der Turner erregten lebhaftes Interesse. Das Doppelquintett "Rheingold" trug durch seine stimmungsvollen Lieder wesentlich zum Gelingen des Abends bei, der Punkt 11 Uhr geschlossen wurde.
Um 7 1/2 Uhr des Sonntags begann im Hofe des Realgymnasiums das Wetturnen, bei welchem an allen Geräten Proben hohen turnerischen Könnens gezeigt wurden. Die Kampfrichter hatten schwere Arbeit, um vom Guten das Beste herausfinden und gerecht bewerten zu können. Das Ergebnis der Kämpfe ist am Schluß veröffentlicht. Um 11 1/2 Uhr gab die Kapelle des Paderborner Regiments ein Konzert auf dem Marktplatze.
Im Laufe des Vormittags trafen inzwischen die auswärtigen Vereine ein, die sich um die Mittagszeit auf den Höfen des Realgymnasiums versammelten, von wo gegen 1 1/2 sich der Festzug in Bewegung setzte, der unter Begleitung mehrerer Musikkapellen und Trommlerkorps, zwischen der Spalier bildenden Bevölkerung Lippstadts hindurch, sich zum Marktplatz bewegte. In dem Festzuge zählten wir zirka 25 Fahnen und 28 Vereine, alles stramme Turner und Turnerinnen. Vor dem Rathause, auf dessen Freitreppe sich der Ehrenausschuss versammelt hatte, fand die Begrüßung der Turner durch das Stadtoberhaupt statt. Herr Bürgermeister Nohl faßte die Gefühle des Festausschusses und der städtischen Körperschaften in freundlichen Begrüßungsworten zusammen. Er wies sodann darauf hin, daß der im Revolutionsjahr 1848 gegründete Lippstädter Verein nach der Umwälzung von 1918 neues Leben entwickelt habe. Als Ersatz für unser Heer seien die Turnvereine unentbehrlich geworden, namentlich in der heutigen Zeit, wo das entnervte Franzosenvolk von 36 Millionen es fertig bringt, das arbeitssame ehedem so stolze Volk zu bedrücken und in Sklaverei zu halten. Dies sei nur möglich, weil die französische Nation einig sei, während sich das deutsche in häßlichen Parteikämpfen zerfleische. Möge die körperliche Ertüchtigung des Volkes durch die Turnvereine dazu beitragen, daß Deutschland sich recht bald frei mache von dem Sklavenjoch, damit wieder in ihm herrsche Einigkeit und Recht und Freiheit. Sein hoch galt dem Vaterlande und der deutschen Turnerei. Im Anschluß daran sang die nach Tausenden zählende Festversammlung mit warmer Begeisterung das Deutschland-Lied.
Darauf ergriff der Vorsitzende des ostwestfäl. Gaues, Herr Gymnasiallehrer Meyer zu Köcker das Wort zu einer warmen Ansprache, der wir folgendes entnehmen:
"Aufrichtigen Dank, Herr Bürgermeister, für die herzlichen Begrüßungsworte, die Sie an die Turner vom Ostwestfäl. Gau zu richten die Freundlichkeit hatten, für die anerkennenden Worte gerechter Würdigung, die Sie für unsere Turnarbeit und den uns beseelenden Geist fanden. Erwecken doch ihre Worte in uns ein lebhaftes Echo, kennzeichneten sie doch den Geist, der ziel- und richtungsgebend unseren Arbeiten voranschwebt. Mit diesem Dank an Sie darf ich zugleich den Dank an alle Herren des Ehrenausschusses verbinden, die sich am heutigen Tage helfend und forderrnd in den Dienst der deutschen Turnerschaft gestellt haben. Aber auch allen Bürgern gilt mein Dank für die herzliche Gastfreundschaft, welche die auswärtigen Turner in unseren Mauern gefunden haben. Mit diesem Dank lassen sie mich aber auch eine Bitte verknüpfen. Wenn die Festesfreude vorüber ist, wenn Fahnen und Guirlanden wieder eingezogen sind, wenn der Alltag mit seinen harten Pflichten und Noten sich wieder meldet, dann bewahren Sie auch unserer Arbeit ein warmes Interesse, ein wohlwollendes Verständnis und eine unterstützende Hand. Wir Turner vom Ostwestfäl. Gau sind gern nach Lippstadt gekommen, um dem Lippstädter Turnverein zu seinem 75jährigen Bestehen die herzlichsten Glückwünsche zu überbringen. Erblicken wir doch in Lippstadt die Stadt innerhalb unseres Gaues in der der Gedanke der deutschen Turnerschaft schon recht frühzeitig feste Wurzeln schlug. Wo schon recht früh Männer von turnfreudiger Begeisterung und idealem Schwung am Bau der deutschen Turnerschaft tätig waren, sich dabei die Unterstützung von Stadt und Bürgerschaft erfreuen konnten. Dafür herzlichen Dank der Stadt und allen ihren Bürgern. Aber außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Immer neue Aufgaben für die Volksgesundheit werden dem Gebiete der Leibesübungen zugewiesen. Und diese Aufgaben können nur gelöst werden, wenn die Unterstützungen großzügig fließen für die Jünger des Turnens, Spiels und Sports. Ich denke nur an die Lösung der Aufgaben, die dem Spielnachmittag gestellt sind. Sie sind und bleiben unerfüllbar, wenn nicht genügend Spielplätze zur Verfügung stehen. Eine Frage die auch für Lippstadt baldigst eine glückliche Lösung finden möge. Darum darf ich auch für die Zukunft im Interesse der gesamten Leibesübungen um wohlwollende Unterstützung bitten.
Dafür aber wollen wir Turner versprechen, im alten Geist und Sinn unseres Turnvaters Jahn zu wirken und zu schaffen, damit die Aufgaben, die er dem deutschen Turnen stellte, immer mehr erfüllt werden. Als solche möchte ich im Augenblick bezeichnen. Das Turnen sei für uns eine Schule der körperlichen und sittlichen Ertüchtigung, eine Schule zur Erziehung eines wahren Gemeinschaftsgedankens, aus dem die Einigkeit von Volk und Vaterland als köstlichste Frucht hervorgehe. In diesem Sinne wollen wir uns betrachten als echte Jünger Jahns, die kräftig mit Hand anlegen am Wiederaufbau von Volk und Vaterland, uns und späteren Geschlechtern zum Segen. Lassen sie mich schliessen mit dem Turnwort: Weg mit welschem Lug und Tand, welschem Brauch und Leben, Hand und Herz fürs Vaterland, aufwärts laßt uns streben, Schließt die Reihn, wie sichs frommt und verpönt die Sorgen. Heut ist heut, es kommt was kommt, morgen bleibe morgen! Wir halten hoch und hehr die Turnerei im Wahlspruch: Frisch! Fromm! Fröhlich! Frei!
Und nun, liebe Turngenossen vom Ostwestfäl. Gau, wollen wir unseren Dank für die Stadt und ihre Bürgerschaft kund tun auf Turnerart. Der Stadt Lippstadt und der gesamten Bürgerschaft ein 3 mal kräftiges "Gut Heil!"
Nach diesem erhebendem Festakt setzte sich der Zug wieder in Bewegung und es ging nun zum Bürgerschützenplatz, der sich als Festplatz viel zu klein erwies für die große Zahl der Teilnehmer. Hier entwickelte sich bald ein echtes rechtes Turnerleben, Freiübungen, an denen sich auch eine Damenriege beteiligte, Musterriegen-, Vereinsturnen usw. boten dem Auge der Zuschauer ein derartiges Bild des Abwechslungsreichen und Mustergiltigen im Turnsport, wie man es kaum für möglich halten sollte. Besondere Bravourleistungen wurden an den Geräten gezeigt. War das eine Luft, all die schlanken Leiber gelenkigen Turner durch die Luft fliegen zu sehen, mit großer Sicherheit die schwersten Uebungen ausführend. Fast alle Leistungen wurden mit spontanem Beifall der Zuschauer geehrt. Einzelne Leistungen hervorzuheben, ist nicht angängig, alle waren gut - nur erwähnen wollen wir, daß sich auch hier Herr Feising, Dortmund als wahrer Meister der Geräte zeigte. Nur zu schnell verliefen die Stunden des Schauturnens, dem alle Zuschauer mit der gespanntesten und ausdauernsten Aufmerksamkeit folgten.
Gegen 6 Uhr fand die Kranzverteilung an die Sieger der Wettkämpfe statt. Herr Meyer zu Köcker betonte eingangs derselben, daß nicht jeder ausgezeichnet werden könnte. Lohn für jeden müßte es sein mitarbeiten zu können an der edlen Sache der Turnerei nach Vater Jahns Idee und damit zum Wohle des deutschen Volkes und Vaterlandes. Mit einem dreifachen "Gut Heil!" schloß er seine Ausführungen und es erfolgte nun die Verteilung der Kränze. Nun war die Zeit des Abschieds für die auswärtigen Turner gekommen. Mit Sang und Klang zogen dieselben zur Bahn oder zu Fuß in die benachbarten Heimatorte. Für die hiesigen Turner und Turnfreunde begann auf dem Festplatz das Festkonzert, dem auch der langsam einsetzende Regen keinen Abbruch tun konnte, und turnerische Fröhlichkeit trat in ihre Rechte. entnommen aus "Blätter für den Ostwestfälischen Turngau" No. 115, Juni 1923
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